Und hier der zweite Teil der kleinen Weihnachtsgeschichte 🙂 .
Hier könnt ihr den ersten Teil der Geschichte nachlesen.
Sophia liegt auf ihrem Bett, das Gesicht tief in den Kissen vergraben und weint bitterlich. Jetzt war ihr auch völlig egal, dass sie eigentlich schon ein großes Mädchen war, denn sie fühlt sich gerade überhaupt nicht groß. Ganz im Gegenteil. Ganz klein und blöd kommt sie sich vor. Was war das auch für eine Ungerechtigkeit! Ihre Mutter hatte es ihr erklärt, was das Wort ,,Diabetes“ bedeutet, aber so richtig verstanden hat sie es nicht. Krank ist sie, soviel ist sicher. Und dass das nie nie wieder weggehen wird. Dieser Gedanke sticht ihr nochmal ganz tief ins Herz und bohrt sich wie die kalte Klinge eines Dolches in sie rein. Aua.
Es hat irgendetwas mit einem Hormon zu tun, das ihr Körper nicht mehr bilden kann. Insulin heißt das und muss ihr nun regelmäßig gespritzt werden. Sie hat, so wie fast jedes Kind, wahnsinnige Angst vor Spritzen. Aber als ob das noch nicht genug Quälerei wäre, nein. Zusätzlich wird ihr ein paar mal in den Finger gepiekt, damit ihre Mutter an ein paar Zahlen ablesen kann, wieviel von dem blöden Insulin in die Spritze muss. Oder wieviel sie essen darf. Und das ist eigentlich das Schlimmste! All das, was sie so gerne mag, darf sie nun nicht mehr essen. Oder nicht mehr so, wie sie will. Deshalb hat Mama auch beschlossen, dieses Jahr zu Weihnachten nicht zu backen, damit sie sich nicht ganz so blöd fühlt. Aber sie fühlt sich trotzdem blöd. Weihnachten ist doch kein richtiges Weihnachten, wenn sie nicht vom Teig naschen kann! Nicht mit Mama Sterne ausstanzen! Und schon gar nicht ohne den leckeren, süßen Duft, der durch die Wohnung schwebt, wenn im Backofen ein Kuchen steht.
Sophia versteht das alles nicht richtig, denn ihr tut ja gar nichts weh. Sie hatte lediglich diesen Durst, der nicht aufhören wollte, egal, wieviel sie trank. Nun, der ist nun weg. Aber zu welchem Preis? Im Kindergarten war es besonders schlimm gewesen. Sie hatten nämlich ein Weihnachtsfrühstück machen wollen mit Nutellabrötchen, selbst gebackenen Keksen und Weihnachtsgeschichten. Es gab auch Nüsse, Mandarinen und Äpfel. Aber Sophia wollte nichts essen, die Spritze, die ihre Mama ihr heut Morgen in den Bauch gepiekt hatte, konnte sie noch spüren. Und sie wusste nun immerhin, dass Spritze und Essen irgendwie zusammen gehörten. Vielleicht geht die Krankheit ja doch noch weg, wenn sie einfach nichts mehr aß! Es hatte lange gedauert und Sibylle, ihre Lieblingskindergärtnerin, musste gut auf sie einreden und lange ihre Hand halten, bis sie sich doch zu der Spritze – und damit zu all den Leckereien – überreden ließ.
Und jetzt ist es soweit. Heiligabend steht vor der Tür. Doch Sophia hat dieses Jahr gar keine richtige Lust. Selbst, als sie am frühen Morgen entdeckt, dass es dicke Flocken vom Himmel schneit und eine wunderschöne, unberührte weiße Landschaft malen, ziept es diesmal nicht so schön in ihrem Bauch, wie im letzten Jahr. Am Frühstückstisch wartet schon der Rest ihrer Familie. ,,Fröhliche Weihnachten Sophia!“ Strahlt ihre Mutter und lächelt auch immer noch, als Sophia nichts erwidert, sondern sich einfach still und schweigsam an den Tisch setzt, ohne etwas anzurühren. Sie hat mit sich einen Pakt geschlossen: Sie wird nichts mehr essen und dafür hört die elendige Piekserei auch endlich auf! Wild entschlossen blickt sie den fragenden Gesichtern ins Gesicht und schiebt trotzig ihre Unterlippe hervor, als sie – nicht ganz ohne Stolz – verkündet: ,,Ich will nichts mehr essen! Und ich will nicht mehr krank sein!“
Zu ihrer großen Überraschung zucken ihre Eltern nur mit den Schultern, während sie ungerührt weiter ihre Brötchen schmieren. ,,Oma Angela kommt heute Nachmittag, sie möchte mit uns den Heiligabend verbringen.“ Erzählt ihre Mutter stattdessen und blickt dabei nicht einmal auf.
Abends klingelt es an der Tür. Sophia sitzt im Wohnzimmer und sieht sich gerade einen Weihnachtsfilm an. Sie hat sich doch noch zu der Spritze überreden lassen und reibt sich die Stelle unter dem Bauchnabel, wo es noch weh tut. Das bildet sie sich zumindest ein. Gegessen hat sie noch nichts und sie spürt ihren leeren Magen, der mit ihr schimpft, indem er gurgelnd und grummelnde Geräusche von sich gibt. ,,Hallo Sophia!“ Oma Angela steht im schweren Türrahmen und wickelt sich gerade den bunten, wolligen Schal von ihrem Hals. Ihre Wangen sind von der Kälte gerötet und ihre Augen blitzen sie mit einem glasklaren Blau schelmisch an. Obwohl sie ihre Oma wirklich gern hat, sagt Sophia nichts, wendet ihren Kopf wieder dem Zeichentrickfilm zu. Es ist eben alles doof und deswegen auch Oma Angela.
Doch diese lässt sich nicht beirren und setzt sich einfach neben sie. ,,Ich hab´s schon gehört,“ sagt sie einfach nur, ,,du willst nichts mehr essen, weil du jetzt diese Zuckerkrankheit hast.“ Das sagt sie ganz nüchtern und trocken, so, als würden sie über das Wetter sprechen. Sophia sagt trotzdem nichts. ,,Weißt du,“ jetzt streicht sie die Wolldecke auf dem Sofa glatt, ,,als ich in deinem Alter war, da war ich ganz dick. So ein richtiges Pummelchen.“ Sie lacht und ihre Augen glänzen glücklich. ,,Und alle haben mich deshalb geärgert. Auch ich fühlte mich häßlich und dick. Im Prinzip durfte ich alles essen und tat es auch. Und irgendwann war ich dann so dick, dass ich nicht mal mehr die Treppe hochrennen konnte, die die anderen Kinder immer so gern zum Wettrennen benutzten. Ich keuchte schon nach dem ersten Stück und war ganz rot wie ein Schwein.“ ,,Aber Schweine sind mutig und stark!“ Unterbricht Sophia sie jetzt doch. ,,Ja, das stimmt. Da hast du Recht. Und ich musste auch ganz schön stark sein, damit ich keine Süßigkeiten mehr gegessen habe, um wieder schlank zu werden. Das hat sehr lange gedauert.“ Jetzt schweigt sie und sieht aus dem Fenster, sieht den tanzenden Flocken im Wind zu. ,,Aber es ist weggegangen.“ Flüstert Sophia. ,,Diabetes geht nie mehr weg.“ Oma Angela nimmt sie jetzt ganz fest in den Arm und sie kann den vertrauten Geruch der alten Frau riechen. Sie schließt die Augen. Vielleicht war die Welt ja doch nicht so böse, wie sie annimmt. ,,Und weißt du, warum ausgerechnet du diejenige bist, die Diabetes hat?“ ,,Nein, warum?“ ,,Weil nur die allerstärksten Menschen die größten Aufgaben im Leben zugeteilt bekommen! Und du hast ja schon bewiesen, dass du ein tapferes Mädchen bist, als du die Monster unter deinem Bett verscheucht hast!“ Sophia atmet tief ein, woher wusste sie das nur? Aber mit Omas war es wohl so wie mit Gott: Sie wussten eben einfach alles. Und hatten auf alles eine Antwort. ,,Es gibt so viele Kinder mit Diabetes und Kinder, die so ungesund leben und deshalb irgendwann krank werden – denen kannst du helfen und ihnen zeigen, dass man gar nicht so krank sein muss. Du hast jetzt eine große Verantwortung Sophia!“ Oma Angela packt sie sanft bei den Schultern und blickt ihr tief in die Augen. ,,Du hast schon so einen großen Mut bewiesen, weil du dich immer spritzen musst! Alle Kinder würden dich dafür bewundern, dass du davor bald keine Angst mehr haben wirst! Und du wirst anderen zeigen, dass die Herausforderung Diabetes nicht bedeutet, nie mehr Spaß zu haben. Du kannst alles spielen und über alles lachen, du kannst die Sonnenstrahlen auf deinem Gesicht spüren, Schneeballschlachten veranstalten und Weihnachten feiern. Und der Weihnachtsmann vertraut in dich! Du bist eines der ganz wenigen auserwählten Kinder, die der Weihnachtsmann damit betraut hat, weil er weiß, dass sie ihre Aufgabe gut machen werden.“ Sophia hat eine Gänsehaut. ,,Der Weihnachtsmann?“ Fragt sie, nur, um ganz sicher zu gehen, dass sie es diesmal auch wirklich verstanden hat. ,,Ganz genau, der Weihnachtsmann!“ ,,Achso.“ Antwortet Sophia. Aber Oma Angela lächelt zufrieden.
Später hat Sophia sich pappsatt gegessen. Der Weihnachtsmann hat ihr all die Geschenke gebracht, die sie sich gewünscht hat. Und später, als sie nachts in ihrem Bett liegt und durch das Fenster die glitzernden Sterne am klaren Nachthimmel leuchten sehen kann, hat sie gar keine Angst mehr vor den Monstern unter ihrem Bett. Sie hat jetzt eine wichtigere Aufgabe zugeteilt bekommen, da kann sie sich ja wohl kaum mit solchen Kleinigkeiten aufhalten, oder? Glücklich schläft Sophia ein.